VOLLMOND 2-2025
20 VOLLMOND 2/2025 SAGE aus dem Mondseeland D i e w e i ß e W a r t e n f e l s e r i n E ines Tages gingen der Bauer und sein Sohn auf die Suche nach Harz um da- raus Pechöl zu gewinnen und dieses später in Salzburg zu ver- kaufen. Es dauerte nicht lange und der Bub verlor die Freude am Harz sammeln, lenkten ihn doch die rote Pracht von Erd- beeren und Himbeerfrüchten in die dornigen Sträucher. Nicht einmal eine von Efeu umrank- te Mauer konnte ihn aufhalten, er kletterte flink darüber und staunte als er in einem brei- ten Burghof ankam. Mittenda saß eine schöne, weiße Frau auf einem goldenen Stuhl. Ihre edle Gestalt steckte in funkeln- dem Geschmeide und in der linken Hand hielt sie ein sil- bern schimmerndes Schmuck- kästchen. „Alle Edelsteine und Schätze gehören dir, wenn du mir dafür die roten Beeren bringst,“ sagte die weiße Frau und deutete auf seine Hand, die noch immer die Fruchttraube zwischen den Fingern hielt. Als er sich der schönen Frau näherte durchfuhr ihn ein Schauer, denn er sah wie die Knochen der Frau bleich hervortraten und runzelige Falten die Lieblichkeit aus dem Gesicht verdrängten. Vor Schreck kullerte der Bauern- sohn den Berghang hinunter, begleitet von dem Wehklagen der Frau: „Wehe mir, nun bin ich wieder nicht erlöst wor- den!“ Aufgebracht erzählte der Bub die unheimliche Be- gegnung seinem Vater, dieser antwortete: „Du hast die wei- ße Wartenfelserin gesehen. Wer ihr Schmuckkästchen eintauscht mit dem Armen- brot, der findet darin den Schlüssel zu den Goldkis- ten in den alten Burgmauern und erlöst die weiße Frau!“ In früheren Zeiten herrschte die Herrin von Wartenfels un- erbittlich und es war Hunger und Not in den Gehöften weit verbreitet. Eines Tages lies sie aus Boshaftigkeit einen armen Bauer von den Klip- pen werfen. Da tat sich ein kalter Schneesturm auf und hüllte Felder und Wiesen in ein dickes, weißes Flocken- meer. Als er vorüber war, stand nur noch ein schlanker Baum mit gelben und oran- genen Blättern an der eins- tigen Stelle der Burg. Wenig später war ein Vogel zu be- obachten der in den Kron- zweigen sitzend, unermüd- lich ein sanftes „Sirh“ von sich gab. Man munkelte der Vogel könnte der Mann der verschwundenen Herrin von Wartenfels sein. Der eigen- artige Baum hatte trotz Kälte und Frost schneeweiße, runde Beeren. Als der Vogel diese berührte, leuchteten diese in grellsten Rotfärbungen. Der „Vogelbeerbaum“ verbreitet esich rasch im ganzen Ge- biet und die Verwendung der wohlschmeckenden Früchte linderte bald an vielen Orten Hunger und Not, sodass sehr schnell die Bezeichnung „Ar- menbrot“ verwendet wurde. Sage aus dem Buch: Goldbrünnlein und Drachen- wand. Illustrationen Heilgard Maria Bertel, Herausgeber, Verleger Prof. MMag. DDr. Bernhard Balthasar Iglhauser, Verkauf: im Gemeindeamt Thalgau
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